Jugendämter ab 1924

Prof. Dieter Kreft, Nürnberg

 

Das Jugendamt
Geschichte und Auftrag einer sozialpädagogischen Fachbehörde
- von 1924 - 2010


Vortrag von Prof. Dieter Kreft, Nürnberg gehalten am 21. Mai 2007 in Freiburg i.Br.

1. Wie alles begann. Oder: Ein holpriger Beginn

Welche Jahreszahl sollte nun als eine Art Gründungsdatum für das Jugendamt/JA gelten? Die Antwort ist nicht leider eindeutig:

Denn es gab bereits in der 2. Hälfte des 19 Jh. Tendenzen zu einer Verselbständigung der Jugendfürsorge in besonderen Ämtern. Diese Absicht konkurrierte allerdings mit der Auffassung derjenigen, die meinten, die ohnehin erforderliche Armenrechtsreform sollte auch die Kinderarmenpflege umfassen, und der Erziehungsgedanke sei noch nicht ausreichend entwickelt, um dafür eine selbständige Organisationseinheit außerhalb der Armenpflege zu begründen.1


Der 1880 gegründete Deutsche Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit (seit 1919 Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge/DV) wird dann der überregionale Austragungsort dieser Auseinandersetzung.2 Insbesondere eine Untersuchung des Mainzer Bürgermeisters Georg Schmidt, die er im Auftrage des DV zur Organisation der städtischen Jugendhilfe im Städtevergleich durchgeführt hatte (von 80 Großstädten hatten sich 55 beteiligt), brachte die inhaltliche Wende3: Denn auf dieser Grundlage wird schließlich erstmalig „die Forderung nach einem besonderen Jugendamt erhoben, von Schmidt ‚als städtische Zentrale für Jugendfürsorge’ bezeichnet’.4


Infolge dieser fachlichen Diskussionen werden jedenfalls bereits vor Inkrafttreten des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes/RJWG eigenständige Jugendbehörden eingerichtet (Hamburg 1910, Mainz 1900/1909, endgültig 1920, Nürnberg 1909/1920, Breslau 1912, Lübeck 1913, Frankfurt/M 19145). „ ... Städte wie Mainz und Hamburg trugen dem öffentlichen Erziehungsanspruch, der um 1910 längst über die Aufgaben der Armenfürsorge hinausgegangen war, insofern Rechnung, als sie eigene, von der Armenverwaltung unabhängige Fürsorgebehörden schufen.


Aus diesem für die damalige Zeit avantgardistischen und umstrittenen Organisationstyp sollte das Jugendamt der Weimarer Zeit hervorgehen“6.
Das ‚erste Gründungsdatum’ ist dann wohl 1910, die Errichtung der Hamburger Behörde für öffentliche Jugendfürsorge7.

Das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz/RJWG

Die Wende sollte dann das RJWG von 1922 bringen, dessen Inkrafttreten für den 1. April 1924 vorgesehen war – dazu kam es in der zunächst beschlossenen Form allerdings nicht. Am 24. Februar 1924 erließ die Reichsregierung die ‚Verordnung über das Inkrafttreten des RJWG’, mit der die Teile des neuen Gesetzes außer Kraft gesetzt wurden, die neue/erweiterte Aufgaben und die Errichtung von Jugendämtern (und Landesjugendämtern) vorsahen.


In Kurzfassung: Wer konnte (es also finanzieren konnte und auch fachpolitisch wollte) konnte, wer nicht, musste nicht – und das galt für Organisation und Aufgabenwahrnehmung.


Aus dieser Zeit stammt im Übrigen auch das unsägliche Begriffspaar ‚Pflichtaufgaben’ und ‚freiwillige Aufgaben’, das bis heute noch in manchen Köpfen spukt.8


Trotz dieser Hemmnisse entwickelten sich aber Aufbau und Organisation der Jugendämter bemerkenswert, jedenfalls wird vielerorts „die vom Reichsgesetz ermöglichte Freiheit bei der Organisation von Jugendämtern ... genutzt“.9


Es bildeten sich drei Gruppen von Jugendämtern heraus: selbständige, andere als Teil eines Wohlfahrtsamtes oder als Teil anderer kommunaler Dienststellen.


Aber: Obwohl die Jugendämter organisatorisch und vor allem inhaltlich noch ein Bild von ‚Beliebigkeit’ bieten, ist 1924 das eigentliche Gründungsdatum; das RJWG war dann trotz aller Bedenken die entscheidende Initialzündung für die flächendeckende Einrichtung von Jugendämtern.

Die Zeit nach 1945

Nach der nationalsozialistischen Zeit wird dann erst mit der Novelle von 1953 der ursprüngliche Zustand des RJWG ‚in Kraft gesetzt’, wie ihn die Mütter/Väter des RJWG wollten: flächendeckende Jugendämter, Jugendfürsorge und Jugendpflege als Einheit der Jugendhilfe unter einem organisatorischen Dach – und schon seither stand es nicht mehr im Belieben der Kommunen diese Aufgaben wahrzunehmen, aber vielerorts blieb das noch lange unbemerkt.10


Und diese Gesetzesfassung blieb dann – im Großen und Ganzen – bis Ende 1990 die rechtliche Geschäftsgrundlage des Kinder- und Jugendhilfe in der alten BRD – ehe dann Ende 1990/Anfang 1991 endlich das SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe – in Kraft trat.

Heute gibt es (ca.) 614 Jugendämter und bislang gilt noch überall, dass es eine eindeutig erkennbare Organisationseinheit in der Kommune geben muss, die alle Aufgaben nach SGB VIII wahrnimmt und das Jugendamt eine zweigliedrige Behörde ist, bestehend aus Verwaltung des Jugendamtes und Jugendhilfeausschuss (§ 71 SGB VIII).11 Dieser Zustand ist allerdings durch die Föderalismusreform I bereits relativiert – ich komme darauf zurück.

2. Der Beitrag der Jugendämter zur fachlichen Entwicklung der Kinder- und Jugendhilfe

Es gab bis zum Inkrafttreten des SGB VIII drei große Untersuchungen, die unterschiedlich Auskunft geben über den organisatorischen und inhaltlichen Entwicklungsstand der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland:


1. Für die Jahre 1927 bis 1929 eine erste Reichsstatistik der öffentlichen Jugendhilfe12;
2. eine Untersuchung von Organisation und Tätigkeit der Jugendämter in der BRD und Berlin (West), vom DV für das Rechnungsjahr 1957/58 durchgeführt13 und
3. die zweibändige umfassende empirische Studie zum Perspektivenwandel der Jugendhilfe von Kreft/Lukas u.a., vorgelegt im Jahre 199014.
Interessant ist bereits ein grober Vergleich über die Jahrzehnte zur Fachkräfteausstattung: Nach der Reichsstatistik „ ... wird die öffentliche Jugendhilfe (noch) zumeist als Teil der allgemeinen und nicht als Fach-Verwaltung angesehen, die – wie die Schule und ihre Verwaltung – besonderer Fachkräfte bedarf. Die Regel bildet die Erledigung der Jugendamtsgeschäfte im Innendienst durch all-round-Verwaltungsbeamte ... sowie die Erledigung des Außendienstes durch Familienfürsorgerinnen“15. Das war auch Ende der 1950er Jahre tendenziell immer noch nicht anders. Erst die Studie zum Perspektivenwandel von 1990 (Datengrundlage 1988/89) belegte zweierlei: „Eine immense Stellenvermehrung ... und darüber hinaus wird die außerordentliche Vermehrung des fachlich qualifizierten, das heißt sozialpädagogisch/sozialarbeiterisch ausgebildeten Personals erkennbar“ ... So hatten 1958/59 noch 108 (22%) der befragten (und antwortenden) Jugendämter überhaupt kein sozialpädagogisches Fachpersonal in Jugendfürsorge und Jugendpflege beschäftigt, während 1988/89 kein befragtes (und antwortendes) Jugendamt mehr ohne Fachpersonal war“16.
Die Erwartungen an die Kinder- und Jugendhilfe hatten sich offenbar so verändert, dass die Jugendämter ihre Aufgaben nicht mehr ohne qualifiziertes Fachpersonal wahrnehmen konnten. Und diese Entwicklung hat sich fortgesetzt 17.
Vieles hat dazu geführt: Der fachliche Aufstand der Alternativbewegung gegen ein verbürokratisiertes Establishment der öffentlichen und freien Träger, das sozialpolitische Reformklima (beides seit Ende der 1960er und in den 1970er und 1980er Jahren) sowie die Reform der Sozialarbeiterausbildung. Ich habe 2004 versucht, diese Entwicklung in meiner Abtrittsvorlesung zum Thema ‚Moden, Trends und Handlungsorientierungen in der Sozialen Arbeit seit 1945 ...’ genauer zu beschreiben18.
Die empirischen Belege der Studie zum Perspektivenwandel in der Jugendhilfe ergeben bereits – zusammen mit den Aussagen des Achten Jugendbericht von 1990 – das fachliche Bild einer entwickelten Kinder- und Jugendhilfe in der alten BRD, wie es dann im SGB VIII von 1990 seinen rechtlichen Ausdruck gefunden hat.
Und schon dieser entwickelte fachliche Zustand wäre m.E. ohne die eigenständige Stellung des Jugendamtes, ohne seine besonderen Rechte im kommunalen Gefüge, nicht denkbar gewesen.

3. Das Jugendamt als Ort der Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung für die kommunale Kinder- und Jugendhilfe

Die Jugendhilferechtsreform hatte über 20 Jahre immer wieder versucht, für die gewandelten gesellschaftlichen Bedingungen und die veränderten Herausforderungen an die Träger der Kinder- und Jugendhilfe eine neue rechtliche Geschäftsgrundlage zu finden19. Ungeachtet aller Niederlagen gab es jedoch über alle Jahre hinweg einige wenige fachliche Ziele, die niemals aufgegeben worden sind:
Es sollte ein umfassender Leistungskatalog entwickelt werden (also nicht Almosen oder Hilfe, nicht Bittsteller oder Hilfesuchender, sondern Leistungsberechtigter – unabhängig von Personen oder politischen Mehrheiten, notfalls gerichtlich einklagbar);
es sollte eine umfassende Zuständigkeit für die Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe beim örtlichen Träger der Jugendhilfe geben. Der § 69 Abs. 3 SGB VIII ist vor diesem Hintergrund erst in seiner fachlichen Vernunft zu erfassen: Ein Amt, das Jugendamt, sollte für alle Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe vor Ort zuständig sein. Auch, weil es die örtlichen Bedingungen und die örtlichen Notwendigkeiten am Besten kennt (heute nennt man das Sozialraumorientierung) – und das Jugendamt sollte keine ‚geschlossene’ Behörde sein, sondern Frauen und Männer der örtlichen Bürgerschaft beteiligen, so wie es heute noch in § 71 SGB VIII steht (letzteres war aber immer auch umstritten).


Diese beiden Hauptziele sind (jedenfalls im Großen und Ganzen) im SGB VIII angemessen normiert worden. Es gibt einen eindeutigen Aufgabenkatalog, es gibt Leitorientierungen im Gesetz, die das Handeln im Einzelfall bestimmen sollen (Werte, wie die Grundrichtung der Erziehung, die Gleichberechtigung von Mädchen und Jungen, das Zulassen von Trägern unterschiedlicher Wertorientierungen, die Verpflichtung zu professionellem Handeln, der Anspruch sozialräumlich orientiert zu arbeiten, das Gebot, individuelle Teilnahme/Teilhabe zu ermöglichen, die Pflicht, freie Träger zu beteiligen und die Selbsthilfe zu befördern, das Gebot. planerisch/entwicklungsfördernd zu handeln und schließlich die Verpflichtung sozialpolitisch (strategisch) Arbeits- und Politikfeld übergreifend zu denken und zu handeln).


Das SGB VIII kennt also keine fachlichen und rechtlichen Beliebigkeiten (wie eben noch bis 1953). Rechtlich könnte wohl vieles eindeutiger sein, aber selbst bei den subjektiven Rechtsansprüchen ist der öffentliche Träger bei den ‚Kann-Leistungen’ nicht ‚vollkommen frei’ in seinem Handeln, sondern gem. § 39 SGB I an die pflichtgemäße Ausführung des Ermessens gebunden20.


Welches fachliche Niveau die Kinder- und Jugendhilfe manchen Orts (natürlich leider nicht überall) vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen und auf der soliden rechtlichen Basis seit 1990 erreicht hat, können Sie musterhaft in dem von Wolfgang Schröer, Norbert Struck und Mechthild Wolff herausgegebenen Handbuch der Kinder- und Jugendhilfe erkennen21.
Und die gesetzliche Pflicht zur Fortentwicklung durch Verfahren wurde in das SGB VIII eingebaut, weil der Gesetzgeber des SGB VIII wusste, dass die Angebote und Dienste von gestern häufig nicht mehr den veränderten Ansprüchen von heute, und die von heute vielfach vermutlich nicht mehr denen von morgen entsprechen werden.(Idealtypisch) soll das dazu führen, dass diese Angebote und Dienste immer zeitnah-fachlich vorgehalten werden – es soll jedenfalls nach dem Willen des Gesetzgebers keinen Entwicklungsstillstand geben: Individuell im Hilfeplanverfahren, strukturell über die Jugendhilfeplanung, qualitativ über die vielen Vereinbarungen, die das Gesetz jetzt an verschiedenen Stellen fordert (z.B. in den §§ 8a Abs. 2 zum Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung, bei 78a ff. die Vereinbarungen über Leistungen, Entgelte und Qualitätsentwicklung).


Fazit: Die sozialpädagogische Fachbehörde Jugendamt ist also über ein fachlich-organisatorisches Viereck so zu beschreiben:


1. Es sind umfassende Aufgaben der Jugendhilfe festgelegt, die in partnerschaftlicher Zusammenarbeit von Trägern der öffentlichen und der freien Jugendhilfe wahrzunehmen sind;
2. die Zuständigkeiten sind weitgehend auf den örtlichen Träger (die kommunale Gebietskörperschaft) verlagert, der örtliche Träger ist zudem verpflichtet, für die Wahrnehmung der (aller) Aufgaben nach SGB VIII ein Jugendamt zu errichten;
3. es wird vorgegeben, dass das Jugendamt zweigliedrig organisiert ist: Mit Verwaltung des Jugendamtes und Jugendhilfeausschuss (letzterer idealtypisch das Forum, in dem Vertreter der öffentlichen und der anerkannten freien Träger alle Belange der Jugendhilfe nach SGB VIII erörtern und dazu beschließen);
4. es ist den öffentlichen Trägern der Jugendhilfe vorgegeben, hauptberuflich Fachkräfte zu beschäftigen (wobei dieses Gebot inzwischen unbestritten auch für die Träger der freien Jugendhilfe gilt, wenn sie die Qualität ihrer Angebote belegen wollen).
Fachkräfte der sozialpädagogischen Fachbehörde Jugendamt nehmen also – in partnerschaftlicher Zusammenarbeit mit freien Trägern – genau beschriebene Aufgaben wahr und sind verpflichtet, mit Hilfe vorgeschriebener Verfahren zur Qualitätsentwicklung zeitangemessene Handlungsstandards zu sichern.

Man könnte sich (fast) zufrieden zurücklehnen, gäbe es nicht die Bedrohung der Kinder- und Jugendhilfe durch die Föderalismusreform I.

4. Was tun nach der Föderalismusreform I?

Trotz des heftigen – und sehr gut begründeten - Widerstandes aus der Kinder- und Jugendhilfe ist die Föderalismusreform I zum 1. September 2006 in Kraft getreten (BGBl I Nr. 41 vom 28.8.06).


Mit diesen Wirkungen für die Kinder- und Jugendhilfe: Die Gesetzgebungskompetenz für das Kinder- und Jugendhilferecht (SGB VIII) bleibt beim Bund. Die Länder erhalten jedoch ab sofort das Recht, abweichend vom Bundesrecht die Einrichtung von Behörden, und ab 1. Januar 2009 auch die Gestaltung der Verwaltungsverfahren zu regeln (Art. 84 Abs. 1 S. 2 GG)22.


Damit sind nunmehr neue Tatsachen geschaffen, auf die sich die Kinder- und Jugendhilfe einzustellen hat.


Mein allgemeiner Vorschlag geht dahin, dass sich die Kinder- und Jugendhilfe endlich auf ihre Stärken besinnen muss und sie aller Orten vortragen sollte, Stärken, die ich zuvor herausgestellt habe.


Das wird allerdings nicht leicht werden, denn die ‚Bataillone’ derjenigen, die die Möglichkeiten der Föderalismusreform I voll ausschöpfen wollen, haben sich bereits formiert und sind überaus aktiv:


So hat der Deutsche Landkreistag/DLT bereits im Dezember 2006 in einem Rundschreiben seine (fast exzessive) Auffassung zu den Auswirkungen der Föderalismusreform I auf den Jugendhilfebereich vorgestellt23.
Meine Kurzfassung dieses Textes: Alles, was irgendwie möglich erscheint, kann und sollte genutzt werden.


Eine dagegen geradezu sorgfältige erste Beurteilung der AG oberste Jugend- und Familienbehörden zum Thema Föderalismusreform24 wird vom DLT denn auch in einer Stellungnahme ‚als Fachpapier, kein politisches Papier’ abgetan (denn es wurde bislang nicht von den Jugend- und Familienministern beschlossen).


Ein erster Vergleich zeigt aber bereits, dass der DLT und die AG der obersten Jugend- und Familienbehörden bei der Organisation sehr nahe beieinander sind: Abweichend von § 69 Abs. 3 SGB VIII (ein JA beim örtlichen, ein LJA beim überörtlichen Träger, die die Aufgaben nach SGB VIII wahrnehmen) kann diese Vorgabe jetzt von den Ländern verändert werden, dann auch die Zweigliedrigkeit des Jugendamtes (also z.B. der Wegfall des Jugendhilfeausschusses), selbst für das Fachkräfteangebot und die Regelung der Persönlichen Eignung (§§ 72, 72a SGB VIII) sind nach beider Auffassung landesrechtliche Regelungen zulässig.


Interessant sind dagegen die Abweichungen zwischen den Papieren beim Verwaltungsverfahren:


Auch hier greift der DLT weiter (genauer in seinem Rundschreiben 661/2006 unter

 

5. Verwaltungsverfahren). Die AG der obersten Jugend- und Familienbehörden trennt hingegen zwischen Verfahren, die ab 1. Januar 2009 eindeutig landesrechtlicher Regelung zugänglich sind25 und solchen, die entweder rein materiell-rechtliche Regelungen sind sowie sog. doppelgesichtige Normen, deren materiell-rechtliche Komponenten sich nicht abtrennen lassen und bei denen Änderungen des Verfahrens das materielle Recht wesentlich verändern würden26.


Aber viel Trost spendet diese Unterscheidung all denen nicht, die davon überzeugt sind, dass die Kinder- und Jugendhilfe eine starke, eigenständige sozialpädagogische Fachbehörde in der Kommune benötigt, die für die Einheit der Jugendhilfe steht. Man möchte ja schließlich nicht, um es durchaus polemisch zu formulieren, in einem Falle von Kindeswohlgefährdung erst in einem Zuständigkeitskatalog blättern müssen, um herauszubekommen, wer für welche Hilfen und welche Leistungen zuständig ist.


Insgesamt gilt (Stand Mai 2007): Mit Ausnahme von Niedersachsen (dort ist das Landesjugendamt inzwischen abgeschafft) gibt es noch keine Beschlüsse der Länder zur Behördenorganisation, auch keine offiziellen Vorlagen zur Nutzung der Möglichkeiten der Föderalismusreform I, aber vieles wird diskutiert. Z. Zt. ist jedenfalls noch nicht eindeutig, wohin bei der Behördenorganisation und später beim Verwaltungsverfahren der Weg der Länder führen wird.


Bleiben Sie also aufmerksam und streitbar!


Weil wir ja hier in Baden-Württemberg sind, noch diese kurze Anmerkung: Für BW gilt als gesichert, dass die Kindertagesstätten- und die Heimaufsicht kommunalisiert werden und dass den Kommunen freigestellt werden wird, Jugendhilfeausschüsse beizubehalten oder nicht.

Mich erinnert jedenfalls die augenblickliche Situation der Kinder- und Jugendhilfe an einen der letzten DDR-Witze, der mit Blick auf Hammer und Zirkel in der DDR-Fahne so lautete: „Da haben wir 40 Jahre gezirkelt und kommen nun doch unter den Hammer!“. Gut, wir – die Kinder- und Jugendhilfe und das Jugendamt in Deutschland – haben viele Jahre mehr auf dem Buckel, aber durch die Föderalismusreform I ist vieles möglich geworden, was das Bild einer organisatorisch und fachlich entwickelten Kinder- und Jugendhilfe stark beeinträchtigte.

Literatur


Gunzert, R.: Organisation und Tätigkeit der Jugendämter in der Bundesrepublik und West-Berlin 1957/1958, Frankfurt/M. 1959 sowie die Interpretationen bei M.R. Vogel: Das Jugendamt im gesellschaftlichen Zusammenhang, Köln/Berlin (West) 1960 (Schriften des DV Nr. 215)
Hasenclever, Chr.: Jugendhilfe und Jugendgesetzgebung seit 1900, Göttingen 1978
Hubert, H.: Jugendfürsorge, Jugendwohlfahrt und Jugendhilfe – Zur Geschichte des Jugendamtes der Stadt Frankfurt/M. Bd. 1: Von den Anfängen bis 1945, Frankfurt/M 2005
Jordan, E./Münder, J. (Hrsg.): 65 Jahre Reichsjugendwohlfahrtsgesetz – Ein Gesetz auf dem Weg in den Ruhestand? Münster 1987
Kreft, D./Lukas, H. u.a.: Perspektivenwandel der Jugendhilfe. Bd. I: Forschungsmaterialien zu neuen Handlungsfeldern in der Jugend- und Familienhilfe sowie Ergebnisse einer Totalerhebung zur Aufgabenwahrnehmung der Jugendämter und Bd. II: Expertisentexte ‚Neue Handlungsfelder in der Jugendhilfe’, Nürnberg 1990, Frankfurt/M. 21993
Kreft, D. : Moden, Trends und Handlungsorientierungen in der Sozialen Arbeit seit 1945 – oder: Hits und Flops – was bleibt für heute? In: Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit 4/2004, 68 ff.
Kreft, D.: Vom Ende fachlicher und rechtlicher Beliebigkeit in der Kinder- und Jugendhilfe. In: neue praxis 5/2001, 437 ff.
Meysen, T.: Wer bestimmt, was Jugendhilfe leistet: Bund, Länder, Kommunen? In: Recht der Jugend und des Bildungswesens 32005, 355 ff.
Münder, J. u.a.: Frankfurter Kommentar zum Gesetz für Jugendwohlfahrt, Weinheim/Basel 41988
Münder, J. u.a.: Frankfurter Kommentar zum SGB VIII: Kinder- und Jugendhilfe, Weinheim/München 52006
Münder, J.: Kinder- und Jugendhilfegesetz. In: Kreft/Mielenz: Wörterbuch Soziale Arbeit, Weinheim/München 52005, 517 ff.
Schröer, W./Struck, D./Wolff, M. (Hrsg.): Handbuch Kinder- und Jugendhilfe, Weinheim/München 2002
Statistisches Reichsamt: Die öffentliche Fürsorge im Deutschen Reich in den Rechnungsjahren 1927 bis 1931, Statistik des Deutschen Reichs – Bd. 421, Berlin 1933 (mit Anhang: die öffentliche Jugendhilfe im Deutschen Reich in den Rechnungsjahren 1927 bis 1929)
Uhlendorff, U.: Geschichte des Jugendamtes. Entwicklungslinien öffentlicher Jugendhilfe 1871 bis 1929, Weinheim/Basel 2003
Vogel, M.R.: Die kommunale Apparatur der öffentlichen Hilfe, Stuttgart 1966
Wabnitz, R. J.: Rechtsansprüche gegenüber Trägern der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII), Berlin 2005

Kreft, Dieter, Staatssekretär a.D.; von 1981 bis 1997 Leiter/Geschäftsführer sozialwissenschaftlicher Praxisforschungsinstitute in Berlin, Nürnberg und Frankfurt/M. Seither freiberuflicher Fach- und Organisationsberater für öffentliche und private Träger der sozialen Arbeit, stv. Vorstandsvorsitzender der Stiftung Sozialpädagogisches Institut Berlin und Honorarprofessor der Universität Lüneburg.


1. Der holprige Beginn (eine kurze Zeitreise)
2. Der Beitrag der Jugendämter zur fachlichen Entwicklung der Kinder- und Jugendhilfe
3. Das Jugendamt als Ort der Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung für die kommunale Kinder- und Jugendhilfe
4. Was tun nach der Föderalismusreform I ?
1nach: Hasenclever 1978, 29
2so über die Jahreshauptversammlungen von 1900 in Mainz (‚die Organisation der Gemeindenwaisenpflege’) und 1910 in Königsberg/Preußen (zu einem Bericht von G. Schmidt/Mainz zur Organisation der Jugendfürsorge)
3Uhlendorff 2003, 148 ff.
4Hasenclever 1978, 29
5nach Hasenclever 1978, 31f., Uhlendorf 2003, 335 ff. (Mainz) und 363 ff. (Hamburg) sowie Hubert 2005 (Frankfurt/M)
6Uhlendorff 2003, 151f.
7 i.E. bei Uhlendorff 2003, 152 und 185 ff.
8„Bis auf weiteres waren Reich und Länder nicht verpflichtet, neue Aufgaben oder wesentliche Erweiterungen bisheriger Aufgaben durchzuführen; Jugendämter brauchten nicht errichtet zu werden, die Errichtung von Landesjugendämtern wurde in das Ermessen der Länder gestellt, die Errichtung eines Reichsjugendamtes wurde aufgegeben. Für die JÄ bestand keine Verpflichtung zur Durchführung der in § 4 RJWG benannten Jugendpflegeaufgaben. Damit war die Praxis der Jugendhilfe wieder auf den Stand von vor der Verabschiedung des RJWG zurückgeworfen“ (bei Jordan/Münder 1987, 9)
9darauf verweisen zwei Statistiken: eine preußische Jugendamtsstatistik von 1926 und eine erste umfassende Reichsstatistik der öffentlichen Jugendhilfe für die Jahre 1927 bis 1929. Danach gab es dann am 31.12.1928 (dem Stichtag der Organisationserhebung) bereits 1251 Jugendämter in den unterschiedlichen Organisationsformen (genauer bei Hasenclever 1978, 100 ff.)
10Münder u.a. 1988: So musste im Rechtsrahmen des JWG immer noch darauf verwiesen werden, welche verschiedenen inhaltlichen Felder sich auf der Rechtsgrundlage des § 5 JWG entwickelt hatten, die z.T. der Gesetzestext noch nicht kannte (z.B. Krippe, Kindergarten, Hort, aber auch Sport und Jugendsozialarbeit) – alles genauer bei § 5 ab S. 93
11Münder u.a. 2006, § 69 Rz 2 und 11
12Statistik des Dt. Reiches Bd. 421, Berlin 1933
13Köln/Berlin 1960; später M.R. Vogel: Die kommunale Apparatur der öffentlichen Hilfe, Stuttgart 1966
14Kreft/Lukas u.a. 1990 (21993)
15Hasenclever 1978, 101 ff.
16Kreft/Lukas u.a. 1993, Bd. I, 375
17 „Neuere Untersuchungen…stützen diese Tendenzaussagen quantitativ und qualitativ. So hat sich die Zahl der Beschäftigten in der Kinder- und Jugendhilfe in der BRD (alt) von 223.000 im Jahre 1974 bis zum Jahre 2002 mit 470.000 fast verdoppelt. Zusammen mit den Beschäftigten in den neuen Bundesländern arbeiten aktuell ca. 570.000 in diesem Bereich, ca. 500.000 sind mit fachspezifischen….. Aufgaben betraut. Die Ergebnisse der Personalerhebung vom 31.12.2002 deuten allerdings darauf hin, dass nunmehr diese Personalexpansion….ihren Höhepunkt erreicht hat (alle Angaben und Daten nach Rauschenbach/Schilling 2005,12)“ (Münder u.a. 2006, ‚§ 72 Rz 3)
18Kreft 2004, 17 (auch unter www.spi.de)
19Münder 2005, 517 ff.
20Kreft 2001, 437 ff.; inzwischen umfassend Wabnitz 2005
21Schröer u.a. 2002
22 Genauer bei Schmidt/Wiesner 2006
23 Rundschreiben des DLT 661 vom 13.12.2006 und zuvor Beschluss des DLT-Kulturausschusses zur Umsetzung der Föderalismusreform in der Jugendhilfe vom 4./5.12.2006
24 Undatiert, mir als Anlage zum Rundschreiben 167/2007 des DLT vorliegend
25 U.a. §§ 35a, 72a S. 2, 77, 78, 78a – 78 g, 81, 99, 100, 101 SGB VIII
26 Z.B. §§ 5, 8, 8a, 36, 61-68, 74, 79 SGB VIII