Zivilrecht Zivilprozessordnung - ZPO -

Zivilprozessrecht


Rechtsbehelfe

In der letzten Stunde haben wir uns abschließend mit den Wirkungen gerichtlicher Entscheidungen im deutschen Zivilprozessrecht beschäftigt, insbesondere mit der Rechtskraft von Urteilen und den Durchbrechungen der Rechtskraft. Dann habe ich mit Ihnen noch den Prozessvergleich als wichtigstem Institut einer einvernehmlichen Streitbeilegung der Parteien besprochen. Wir haben damit alle wesentlichen Aspekte des Verfahrens in der 1. Instanz besprochen. Nun ist es aber häufig so, dass eine der Parteien oder beide mit dem Urteil des erstinstanzlichen Gerichts nicht zufrieden ist. Das deutsche Zivilprozessrecht sieht für solche Fälle die Möglichkeit vor, dass die Parteien die in der ersten Instanz ergangene Entscheidung durch Gerichte höherer Instanzen überprüfen lassen. Dafür sind spezielle Verfahrensregeln vorgesehen, die Regeln über Rechtsbehelfe. Damit wollen wir uns heute beschäftigen.

BeispFall:

 

K hat vor dem AG in Kiel gegen B eine Forderung von 3000,-- Euro eingeklagt. Durch Urteil des AG vom 05.01.2010 wird die Klage in Höhe von 2500,-- zugesprochen. K ist der Auffassung, das Gericht habe die von ihm vorgelegten Beweise nicht richtig gewürdigt und außerdem die Rechtslage verkannt. Überdies möchte er einen zusätzlichen Zeugen benennen.

 

Was kann K unternehmen?

--> Möglw. Einleitung eines Verfahrens zur Überprüfung und ggf. Aufhebung bzw. Abänderung einer gerichtlichen Entscheidung: Grundtyp = sog. Rechtsmittel (§§ 511 ff. ZPO = 3. Buch ZPO).

I. Allgemeines

1. Grund für die Existenz von Rechtsmitteln
- Richter können Fehlentscheidungen treffen; Rechtsmittel ermöglichen deren Korrektur und dienen damit dem Grundrechtsschutz und dem Rechtsfrieden und damit dem Ansehen der Rechtsordnung
- Existenz von Rechtsmittel hat disziplinierende (qualitätsverbessernde) Wirkung auf die Entscheidung der Vorinstanz

2. Rechtspolitische Problematik von Rechtsmitteln
- auch Rechtsmittelgerichte können irren: es gibt keine Garantie richtiger Entscheidungen
- Verfahrensverzögerung
- Verfahrensverteuerung

--> Daher Abwägung nötig: RMittel sind in gewissem Umfang nötig, aber müssen zugleich beschränkt bleiben. Nach Rspr. BVerfG enthält Art.19 IV GG (RWeggarantie) keine Gewährleistung eines Rechtsmittelzuges, BVerfGE 65, 76 (90).

3. Begriff: Rechtsbehelfe i.w.S. = Rechtsmittel + Rechtsbehelfe i.e.S.

Ausdruck Rechsbehelf wird gelegentlich auch in noch weiterem Sinn gebracht: jede Art gerichtlichen Rechtsschutzes, z.B. auch Klagen (insbes. im Zusammenhang einer Klage gegen eine Verwaltungsentscheidung)

a) Rechtsmittel sind gekennzeichnet durch
- Suspensiveffekt [hemmen formelle RKraft; nicht notwendig den sofortigen Vollzug!] und
- Devolutiveffekt [bringen Sache in höhere Instanz]

Rechtsmittel der ZPO: Berufung, Revision, Beschwerde (§§ 511 ff - 542 ff. - 567 ff. ZPO)

Kontrollfrage: woraus ergibt sich, dass die Berufung ein RMittel ist?
- Suspensiveffekt: § 705 i.V.m. §§ 511 ff (Überschrift RMittel)
- Devolutiveffekt: §§ 72, 119 GVG (LG bzw. OLG)

b) RBehelfe (ieS): sonstige prozessrechtliche Möglichkeiten zur Überprüfung gerichtl. Entscheidungen, z.B. Widerspruch und Einspruch bei MahnVerf (§§ 694, 696; 700 Abs. 3 ZPO: entscheidendes Gericht gehört der gleichen Instanz an) + Widerspruch im einstw. RSchutzverfahren (§ 924 ZPO): kein Devolutiveffekt.

Die Frage hierzu wäre:

Welcher Rechtsbehelf i.w.S. ist statthaft gegen ein Versäumnisurteil (§§ 330 ff. ZPO): Einspruch, § 338 ZPO.


Ist der Einspruch ein Rechtsmittel oder ein (schlichter) Rechtsbehelf? RBehelf ieS, da kein Devolutiveffekt § 340 ZPO; obwohl Suspensiveffekt, § 705 S. 2 ZPO

Ist die Anhörungsrüge nach § 321 a ZPO ein Rechtsmittel oder ein Rechtsbehelf?
Ähnl. wie bei Einspruch: zwar Suspensiveffekt (§ 705 ZPO), aber kein Devolutiveffekt --> daher Rechtsbehelf i.e.S.

Rechtsbehelfe im weiteren Sinn sind auch eigenständige (d.h. in einem getrennten Verfahren ergehende) Klagen, die auf die Abänderung oder Aufhebung einer gerichtlichen Entscheidung zielen, insbes. die sog. außerordentlichen Rechtsmittel gg. rechtskräftige Entscheidungen gem. §§ 578 ff. ZPO (Wiederaufnahme) und die Abänderungsklage nach § 323 ZPO, dazu s.u.

4. Allg. Voraussetzungen von RMitteln und RBehelfen i.e.S.

In ZPO nicht in einem allgemeinen Teil zusammengefaßt, aber Gemeinsamkeiten lassen sich aus den §§ 511 ff. ZPO für die einzelnen Rechtsmittel erschließen. Für Berufung ausdrücklich geregelt, Revision verweist zu wesentl. Teilen auf BerufungsVerf (§ 565 ZPO)

a) Zu unterscheiden (ähnlich wie bei Klagen) zw. Zulässigkeit + Begründetheit [des Rechtsmittels]

b) Zulässigkeit des Rechtsmittels

Rechtsmittel (oder Rechtsbehelf i.e.S.) ist zulässig, wenn bestimmte verfahrensrechtliche Anforderungen erfüllt sind, so dass sich das RMittelgericht mit dem Anliegen des „Rechtsmittelführers“ [Rechtsmittelklägers] in der Sache zu beschäftigen hat.

Vgl. Aufzählung bei § 522 Abs. 1 ZPO (nicht abschließend: auch andere PV zu prüfen, z.B. dt. Gerichtsbarkeit, Partei- und Prozessfähigkeit etc.)

aa) Statthaftigkeit: Ist ein bestimmtes RMittel seiner Art nach gg. die betr. Ausgangsentscheidung vorgesehen?

--> BeispFall: Gg. Endurteile der 1. Instanz ist das RMittel der Berufung statthaft, § 511 I.

bb) Frist + Form, z.B. bei Berufung § 517 ZPO (1-Monatsfrist ab Zustellung (!) des Urteils), § 519 ZPO (Schriftform)

cc) Beschwer (Sonderfall des RSB): Partei darf nur dann RMittel einlegen, wenn sie durch die Entscheidung benachteiligt ist. Grds. formelle Beschwer (Abweichung Urteil von Klageantrag)

aaa) D.h. wenn Kläger vollständig Recht bekommen hat (seinem Antrag entsprochen wurde), kann er gegen das Urteil kein RMittel einlagen (prakt. Beisp.: Kläger denkt im Nachhinein z.B., er hätte mat-r auch ein höheres Schmerzensgeld beanspruchen können).

[bei Bekl genügt nach Rspr mat. Beschwer = für ihn nachteilige Entscheidung (arg. Bekl. muß keinen Sachantrag stellen: Folge Bekl kann auch dann RMittel einlegen, wenn er z.B. die Klage anerkannt hatte; str.].

bbb) Bei Berufung: Wert der Beschwer (Beschwerdegegenstand) muß grds. 600,-- Euro übersteigen, § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO.

In Lit werden z.T. Beschwer (allgemein) und Beschwerdegegenstand (so Wortlaut § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO) begrifflich getrennt (Bedeutung: Partei kann Urteil z.B. nur in bezug auf einen Teil der Beschwer anfechten).

--> BeispFall: K nur um 500,-- Euro beschwert. Berufung wäre nicht zulässig.
Anders für B: um 2500,-- Euro beschwert.

-Prüfung der Zulässigkeit des RMittels erfolgt vAw (siehe § 522 Abs. 1 ZPO).

Terminologie: Unzulässiges RMittel wird „verworfen“, vgl. § 522 Abs. 1 Satz 2 ZPO

--> BeispFall:

Berufung des K wäre unzulässig [wenn keine Zulassung der Berufung gem. § 511 Abs. 2 Nr. 2 ZPO erfolgt ist], Berufung des B wäre zulässig (falls form- und fristgerecht erhoben)

c) Begründetheit des Rechtsmittels, wenn die angefochtene Entscheidung prozessual oder materiell unrichtig ist, d.h.
- bei abgewiesener Klage: wenn Klage zulässig + begründet ist
- bei stattgegebener Klage: wenn Klage unzulässig oder unbegründet ist

Wichtig: Zulässigkeit der Klage bzw des vorausgehenden Rechtsmittels ist Prüfungspunkt bei der Begründetheit des Rechtsmittels!!!

Terminologie: Unbegründetes RMittel wird „zurückgewiesen“, vgl. § 522 Abs. 2 ZPO (grds. mat. Gesichtspunkte)

[Bei Begründetheit Tenorierung ggf. Aufhebung der Vorentscheidung und Zurückverweisung od. Aufhebung und Durchentscheidung in der Sache].

5. Weitere übergreifende Gemeinsamkeiten von Rechtsmitteln

a) Verbot der reformatio in peius, s. § 528 Satz 2 ZPO (Ausdruck der Dispositionsmaxime).

Korrespondiert mit § 308 ZPO.

Beispiel: K klagt gg B auf 6000,--. Urteil spricht 4000,-- zu. K legt Berufung ein. Berufungsgericht (OLG) darf nicht Klage ganz abweisen, weil es den Anspruch für unbegründet hält.

b) Anschlußrechtsmittel zum Schutz des RMittelBekl, der die RMittelfrist hat verstreichen lassen od. auf RMittel verzichtet hat, §§ 524, 554 ZPO. Wichtig: Beschwer nicht nötig.

BeispFall von oben a): auf Berufung des K hin kann B Anschlußberufung einlegen. Wichtig, um reformatio in peius-Verbot zu überwinden und z.B. völlige Klageabweisung zu erreichen.
(Sinn: die urspr. „friedfertige“ Partei, die Rechtsmittelfrist hat verstreichen lassen, soll, wenn Gegner RMittel einlegt, ebf. wieder Gesamtverfahren zur Entscheidung stellen können).

aa) Vorr:
- Berufung od. Rev. muß eingelegt sein
- RMittelverzicht durch eine Partei schließt ihr AnschlußRMittel nicht aus, s. § 524 Abs. 2 ZPO
- RMittelfristen gelten nicht, s. § 524 Abs. 2, 554 Abs. 2 ZPO. Aber 1-Monatsfrist nach Zustellung der RMittelbegründung zu beachten.
- Beschwer nicht erforderlich; z.B. kann obsiegende Partei im AnschlußRMittel die Klage erweitern.

bb) Abhängigkeit vom Hauptrechtsmittel, s. § 524 Abs. 4 ZPPO --> mit Rücknahme des RMittels wird auch AnschlußRMittel unzulässig. Rücknahme Berufung nur noch bis zu Verkündung des Urteils (§ 516 ZPO; früher bis zu Rechtskraft).

c) Anfechtung von ihrer prozess-r Art nach unzulässigen Entscheidungen: Meistbegünstigung (z.B. Urteil statt Beschluss)

2 Möglichkeiten
- RBehelf zu wählen, der gegen die tatsächlich getroffene Entscheidung statthaft ist (sog. subjektive Theorie)
- oder Rechtsbehelf zu wählen, der gegen den in der prozessualen Situation vorgeschriebenen Entscheidungstyp vorgesehen wäre (sog. objektive Theorie)

Beispiel

K klagt gg. B vor dem AG. B erscheint in der mündl. Verhandlung nicht. Das Gericht erläßt ein streitiges Sachurteil, obwohl K ein VU beantragt hatte (VU-Antrag wird übersehen).

Hier gilt sog. Meistbegünstigung, d.h. Berufungskläger kann zwischen beiden RBehelfen (Einspruch oder Berufung) wählen (arg. Berufungskläger soll nicht ein „an sich zulässiger“ Rechtsbehelf abgeschnitten werden, arg. Art. 19 Abs. 4 GG).

d) Rechtsmittelrücknahme und Rechtsmittelverzicht, §§ 515, 516 (DispMaxime) ZPO

II. Berufung, §§ 511 ff. ZPO

1. Zulässigkeit der Berufung

Prüfung s. § 522 ZPO

a) Statthaftigkeit: § 511 ZPO grds. nur gg Endurteile (der 1. Instanz)

b) Zuständigkeit: nächsthöhere Instanz, dort auch einzulegen (judex ad quem, § 519 Abs. 1 ZPO)
AG – LG, LG – OLG, s. §§ 72, 119 GVG.

Durch FGG-ReformG 2009 wurden § 119 Abs. 1 Nr. 1 b und c) a.F. GVG aufgehoben: danach war das OLG für Berufung gg Urteile des AG zuständig, wenn AG über Klage einer bzw. gg. eine Partei mit ausländ. Wohnsitz zu entscheiden hatte oder ausländisches Recht angewandt hat. Sinn: Kompetenzkonzentration.

Das Berufungsgericht (LG oder OLG) entscheidet grds. kollegial (Kammer bei LG, Senat bei OLG), kann aber die Führung des Berufungsverfahrens einem Einzelrichter übertragen, wenn erstinstanzl Entscheidung von Einzelrichter getroffen wurde und die Sache voraussichtlich keine besonderen Schwierigkeiten aufwirft, s. § 526 ZPO. Etwas weniger weitgehend § 527 ZPO Übertragung an „vorbereitenden“ Einzelrichter, d.h. dieser kann selbst keine Entscheidung treffen, aber z.B. einzelne Beweise erheben.


c) Form, § 519 ZPO

d) Frist, § 517 ZPO: 1 Monat. Unterscheide: Frist für Berufungsbegründung, § 520 ZPO (2 Mon.)

e) Beschwer:
- Wert des Beschwerdegegenstandes über 600,-- Euro (sog. Erwachsenheitssumme), § 511 Abs.  Nr. 1 ZPO
- oder  (neu) Zulassung § 511 Abs. 2 Nr. 2 ZPO, zwingend in Fällen des § 511 Abs. 4 ZPO (grundsätzl. Bedeutung = über Einzelfall hinaus, zB bei Verfahren über AGB); einheitl Rspr: wenn Abweichung von einer obergerichtl. Entscheidung.

Grundsätzlich hat Gericht in seinem Urteil vAw über Berufungszulassung zu entscheiden; nach Rspr kann aber auf ausdrückl Entscheidung zu diesem Punkt verzichtet werden, wenn keine Partei eine entsprechende Anregung gestellt hat; Schweigen im Urteil bedeutet Nichtzulassung, Zöller-Gummer § 511 Rdz. 40.

Zulassung der Berufung ist für das Berufungsgericht bindend, § 511 Abs. 4 S. 2 ZPO. Nichtzulassung. Nichtzulassung ist nicht anfechtbar (Umkehrschluss zu § 544 ZPO).

f) Begründung der Berufung (nicht identisch mit Begründetheit), § 520 ZPO : innerhalb 2-Monatsfrist.

--> Entscheidung über Zulässigkeit: (Wiederholung zu oben): bei Unzulässigkeit der Berufung erfolgt „Verwerfung“ durch Urteil oder Beschluss, § 522 Abs. 1 Satz 1, 2 ZPO. Zulässigkeit bejahende Entscheidung erfolgt entweder in den Gründen des Berufungs(end)urteils oder in Zwischenurteil gem. § 525 i.V.m. § 303 ZPO.

Andernfalls befasst sich Berufungsgericht mit der Begründetheit der Berufung: grds. Urteil, aber gem. 522 II auch erleichterte Zurückweisung durch Beschluss möglich, wenn nach einstimmiger Auffassung der Richter die Berufung keine Erfolgsaussicht hat und Sache auch keine grundsätzliche Bedeutung hat.

2. Begründetheit der Berufung

wenn das Urteil der 1. Instanz formell oder materiell unrichtig ist, d.h. entgegen erstinstanzl. Urteil ist Klage
= zulässig + begründet (bei klageabweisendem Ausgangsurteil)
= oder unzulässig oder unbegründet (bei klagestattgebendem Ausgangsurteil): s.o.

Dies ist zu präzisieren:

a) Früher grds. vollständig neue Verhandlung § 525 a.F. iVm § 523 a.F. ZPO (wie Verf. in 1. Instanz); jedoch best. Bindung an Tatsachenermittlung der 1. Instanz, z.B. bei Geständnis § 532 ZPO, jus novorum (neue Angriffs- und Verteidigungsmittel) z.T. eingeschränkt §§ 527, 528 a.F ZPO.

b) Durch ZPO-Reform 2002 erfolgte einschneidende Neuregelung: grds. dient Berufung jetzt nur noch der Fehlerkontrolle des erstinstanzl. Urteils, s. die Grundnorm des § 513 Abs. 1 ZPO: Überprüfung des erstinstanzl. Urteils auf Rechtsverletzungen und - in sehr beschränktem Umfang (§§ 529, 531 ZPO) - aufgrund neuer Tatsachenermittlung/bewertung.

--> Wesentliche Beschränkung des Prüfungsumfangs im Vergleich zum früheren Recht, insbesondere:

aa) § 529 Abs. 2 ZPO: Verfahrensfehler der ersten Instanz werden grds. nur geprüft, wenn sie in der Berufungsbegründung § 520 ZPO (!) gerügt werden.

§ 529 II ZPO ist Einschränkung des Grundsatzes des § 513 ZPO, wonach das Urteil der 1.Instanz grds. vollständig auf Rechtsfehler hin zu überprüfen ist.

Aber volle Überprüfung bei den vAw wegen zu prüfenden Verfahrensmängeln, d.h. insbes. Vorliegen der Prozessvoraussetzungen.

Jedoch Gegenausnahme: Bejahung der Zuständigkeit des erstinstanzl. Gerichts wird nicht geprüft, § 513 Abs. 2 ZPO (anders bei dessen Verneinung)

[früher nur auf örtl. Zust. bezogen, jetzt auch auf sachl. Zust., nach Rspr BGH NJW 2003, 426 aber nicht für internat. Zust. wg deren besonderer Bedeutung für Souveränitätsabgrenzung]

[Nach Art.25 EuGVVO/19 EuGVÜ-LugÜ + Rspr EuGH hierzu müssen ausschließl. Zuständigkeiten der EuGVVO in allen Instanzen geprüft werden: Vorrang des supranationalen europ. Rechts vor § 119 GVG]

bb) §§ 529, 531ZPO Tatsachenermittlung + Angriffs- bzw. Verteidigungsmittel

[Achtung: §§ 529 Abs. 1, Abs. 2 und § 531 ZPO  überschneiden sich in ihren Anwendungsbereichen!]

aaa) § 529 I Nr. 1 ZPO

Nach § 529 I Nr. 1 ZPO ist Berufungsgericht grds. an die von der 1. Instanz festgestellten Tatsachen gebunden [die Tatsachen können sich sowohl auf die Zulässigkeit als auch auf Begründetheit der Klage beziehen!], d.h. Ausschluß neuer Beweiserhebung.

[anders bei Rechtsfehlern in der Tatsachenerhebung, § 513 ZPO].

Aber
- Beweiswürdigung kann von Berufungsgericht selbständig vorgenommen werden (insofern Unterschied zur Revision).

- Ferner ist nach § 529 I Nr.1 ZPO neue Tatsachenerhebung (Beweiserhebung) erforderlich (kein Ermessen!), wenn „konkrete Anhaltspunkte“ Zweifel an der Richtigkeit der Tatsachenfeststellungen begründen: z.B. Zweifel aus Protokoll, dass Beweiserhebung nicht erschöpfend war od. wenn protokollierte Aussage des Zeugen in Widerspruch zu Urteilsgründen steht, oder wenn Berufungsgericht Anhaltspunkte sieht, die Aussage einiger Zeugen stärker  oder schwächer zu gewichten als das erstinstanzliche Gericht  erheblicher Spielraum zur neuen Beweiserhebung.

bbb) § 529 I Nr.2 ZPO: „neu festzustellende Tatsachen“, soweit deren Berücksichtigung zulässig ist.

Zulässigkeit der Berücksichtigung neuer Tatsachen ergibt sich aus § 531 ZPO (der aber allgemein für Angriffs- und Verteidigungsmittel gilt)

ccc) § 531 ZPO: Neue Angriffs- und Verteidigungsmittel (Begriff wie in §§ 282, 296 ZPO).

Nach Musielak-Ball § 529 Rdz.19) gilt § 529 Abs. 1 Nr.2 ZPO allg. für neue Angriffs-/Verteidigungsmittel beziehen (diese müssen sich nicht notwendig auf „Tatsachen“ beziehen); aA hält am Wortlaut § 529 Abs. 1  Nr. 2 ZPO fest, so dass § 531 ZPO neben § 529 ZPO eigenständige Bedeutung zukommt.

Nach § 531 sind neue Angriffs- und Verteidigungsmittel

(= jede zur Begründung der Klage oder ihrer Abweisung vorgetragene tatsächl. od. rechtl. Behauptung, Einwendung, Bestreiten, Beweisantrag; nicht: Angriff/Verteidigung selbst, d.h. Sachanträge, s. § 282 ZPO). Auch nicht: allg. Rechtsausführungen, da hierfür jura novit curia gilt.)

nur noch sehr eingeschränkt zugelassen: z.B. Gesichtspunkt wurde vom Gericht 1. Instanz erkennbar übersehen oder außer Acht gelassen (Nr.1) oder aufgrund eines Verfahrensfehlers nicht geltend gemacht (z.B. Unterlassung gerichtl. Hinweis, § 139 ZPO) oder von den Parteien ohne Nachlässigkeit - auch einfache Fahrlk schadet - nicht geltend gemacht (Nr.3). Greift z.B. ein, wenn Angriffs-/Verteidigungsmittel erst nach mündl. Verhandlung entstanden ist.

Bei verzögertem Vortrag neuer Angriffs- und Verteidigungsmittel verweist § 530 auf § 296 Abs. 1 und Abs. 4 ZPO: Präklusion des Vortrags bei (grds. absoluter) Verzögerung.


c) Entscheidung: (zugleich Wiederholung zu oben)

(grds. Urteil, aber auch Zurückweisungsbeschluss mögl, § 522 Abs. 2 ZPO)

Falls Ausgangsurteil unrichtig,  Möglk Zurückverweisung (Kassation) od. eigener Entscheidung, s. § 538 Abs. 1, Abs. 2 ZPO (aber grds. eigene Entscheidung).
-->  Falls Ausgangsurteil richtig, wird Berufung als unbegründet zurückgewiesen. RKraft richtet sich nach Berufungsurteil (vgl. Tenor - TB Ausgangs- und Berufungsurteil).

III. Revision, §§ 542 ff

Kern:
- grds. reine Rechtsinstanz
- Vorrangige Aufgabe ist Rechtsfortbildung und Rechtsvereinheitlichung (Individualschutz tritt eher zurück, s. § 543 Abs. 2 ZPO.

1. Zulässigkeit

a) Statthaftigkeit

aa) gg Berufungsurteile (früher nur OLGs, jetzt auch bei LG denkbar, s. § 542 ZPO = Erweiterung der Revisionsmöglichkeiten).

bb) Nur bei Zulassung, § 543 ZPO. Streitwert (früher ab Streitwert 60 000,-- DM) wurde abgeschafft. RevGericht ist an Zulassung gebunden.

cc) Neu: Nichtzulassungsbeschwerde, § 544 ZPO

b) Zuständig: BGH (Karlsruhe): § 133 GVG

S. Webseite des BGH: www.bundesgerichtshof.de: BGH hat z.Zt. ca. 130 Richter, 12 Zivil- und 5 Strafsenate sowie 8 Spezialsenate (z.B. Landwirtschaftssachen, Anwaltssachen, Kartellsachen etc.). Je Senat 6 – 7 Richter, aber Senat entscheidet mit 5 Richtern (einschl. Vorsitzender Richter). S.a. Großer Senat für Zivil- und Strafsachen sowie Vereinigte Senate.


c) Form, § 549 ZPO

Nach VO über el. RVerkehr beim BGH v 26.11.2001 können beim BGH auch el. Dokumente iSv § 130 a ZPO eingereicht werden.

d) Frist, 548 ZPO: 1 Monat. Auch Frist f. RevBegründung § 551 ZPO (2 Mon.)

e) Ggf. AnschlußRev § 554 ZPO

2. Begründetheit,

a) wenn Rechtsverletzung, §§ 545, 546 ZPO: liegt vor bei Nichtanwendung od unrichtiger Anwendung von Rechtsvorschriften (grds. nur BundesR).

Kausalität Rechtsverletzung -- Urteil nötig, s. §§ 545, 561 ZPO: idR gegeben bei Verletzung mat. Rechts; bei Verletzung verf-r Vorschriften ist es ausreichend, dass das Berufungsgericht möglicherweise zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre. Fehlt Kausalität, ist Revision unbegründet.

Aber Erleichterung Kausalitätsnachweis gem. § 547 ZPO durch sog. absolute RevGründe: Kausalität wird unwiderleglich vermutet bei besonders schwerwiegenden Verfahrensverstößen z.B. fehlerhafte Besetzung des Gerichts, Verletzung des Prinzips der Öffentlichkeit des Verfahrens, unzulässigermaßen ohne Gründe ergangene Entscheidung.

Unrichtige Bejahung oder Verneinung (anders § 513 Abs. 2 ZPO bei Berufung) der Zuständigkeit kann nicht gerügt werden, § 545 Abs. 2 ZPO: gilt nach Rspr nicht für internat. Zuständigkeit (s.a. Art. 25 EuGVVO, ausschließl. Zuständigkeiten)

b) Grds. keine neue Tatsacheninstanz, § 559 Abs. 1 Satz 1. Ausn. § 559 Abs. 1 Satz 2 und § 559 Abs. ZPO:
- neue Tatsachen können vorgetragen werden, soweit sie Verfahrensrügen begründen.
- Zudem ist BGH nach § 559 Abs. 2 ZPO an solche Tatsachenfeststellungen nicht gebunden, deren Feststellung ein Verfahrensverstoß zugrundelag.

c) SprungRev. § 566 a ZPO (direkt von 1. Instanz in RevInstanz möglich: BGH muß Sprungrevision zulassen)

- Entscheidung: Bei Begründetheit Rev. ist Berufungsurteil aufzuheben, § 562 ZPO (kassator. Entscheidung). Zurückverweisung (§ 563 ZPO) od. RevGericht kann selbst entscheiden, § 563 Abs. 3 ZPO (wenn entscheidungsreif, insbes. keine neue Tatsachenermittlung mehr nötig). Bei Zurückverweisung ist Berufungsgericht an Rechtsauffassung des RevGerichts gebunden, § 563 Abs. 2 ZPO.

IV. Beschwerde, §§ 567 ff ZPO

Kerncharakteristik: etwas weniger formell als Berufung (z.B. Begründung nur als Sollvorschrift, § 571 ZPO). Neugestaltet durch ZPO-Reform: die bisherige unbefristete Beschwerde wurde abgeschafft, jetzt nur noch befristete (sog. sofortige) Beschwerde + Rechtsbeschwerde.

1. Zulässigkeit

a) Statthaftigkeit, § 567 ZPO: gg Beschlüsse, Verfügungen. Wenn ausdrückl. vorgesehen od. wenn mündl. Verhandlung nicht obligatorisch.

Beisp: z.B. § 127 Abs. 2 ZPO bei Entscheidungen im PKH-Verfahren; § 387 bei Streit über ZeugnisverweigerungsR; § 142 i.V.m. § 387 ZPO Streit über Urkundenvorlegung durch Dritte. Wichtig auch: gegen Entscheidungen des Insolvenzgerichts im InsVerfahren, z.B. § 6 InsO i.V.m. §§ 4d, 34 InsO etc.

b) Einzulegen bei judex a quo (kann abhelfen, § 572 Abs. 1 ZPO) oder judex ad quem.

(Anders Berufung: nur Einlegung beim Berufungsgericht, § 519 Abs. 1 ZPO; auch keine Abhilfebefugnis des erstinstanzl. Gerichts).

c) Form: § 569 Abs. 2 ZPO

d) Frist - jetzt ja, sof. Beschwerde § 569 ZPO (2 Wochen)

2. Begründetheit

a) Abhilfeverfahren durch Ausgangsgericht vorgeschaltet, § 572 Abs. 1 ZPO

b) Mündliche Verhandlung über Beschwerde nicht nötig (s. § 574 Abs. 4 ZPO, aber rechtliches Gehör Art. 103 I GG.

c) Neuer Tatsachenvortrag und sonstige Angriffs- und Verteidigungsmittel sind möglich (liberaler als bei Berufung, s. § 571 ZPO)

3. Aufschiebende Wirkung grds. nur bei besonderer Anordnung, § 570 ZPO

[Beschwerde kann daher nur mit Einschränkung als RMittel ieS bezeichnet werden; aber so systemat. Einordnung durch ZPO].

V. Außerordentl. Rechtsbehelfe: Rechtskraftdurchbrechungen

1. Sog. „Außerordentliche Rechtsmittel“: Wiederaufnahme gg. rkräftige Entscheidungen (mat Gerechtigkeit <--> Rechtskraft) §§ 578 ff. ZPO
- Nichtigkeitsklage § 579 ZPO: bei schweren Verfahrensmängeln (entsprechen weitgehend den absoluten RevGründen gem. § 547 ZPO)
- Restitutionsklage § 580 ZPO: wg schwerer Mängel der Entscheidungsgrundlagen.
= Vor allem bei strafbarer Verfälschung der Urteilsgrundlagen; enge Vorr: strafgerichtl. Verurteilung nötig (s. § 581 ZPO)
= Wichtig auch § 580 Nr.7 b ZPO) Auffinden einer [bereits bei der letzten mündl Verhandlung vorhandenen] beweiserheblichen Urkunde: Grund liegt in Offensichtlichkeit der Erschütterung der Urteilsgrundlagen (neue Beweise allgemein reichen noch nicht) Verschulden schließt Wiederaufnahme aus, § 582 ZPO.

Wiederaufnahme hat keinen Suspensiv- und Devolutiveffekt.

Einige besondere PV, s. etwa § 584 ZPO ausschließl Zuständigkeit des Prozessgerichts 1. Instanz, dessen Endurteil angegriffen wird.

Sind die PV gegeben (Zulässigkeit, vgl. § 589 ZPO) + liegt ein Wiederaufnahmegrund vor, so wird das alte Urteil aufgehoben (iudicium rescindens) und über den RStreit erneut verhandelt (iudicium rescissorium), vgl. § 590 ZPO.

2. Abänderungsklage § 323 ZPO: bei in die Zukunft gerichteten Abänderungsklage bei Leistungsurteilen (sich wiederholende Beträge) s. dazu Teil II. Urteilswirkungen.

3. § 826 BGB: s. dazu bereits Teil I. zu den Urteilswirkungen.

4. Verfassungsbeschwerde, Normenkontrolle: s. dazu Teil II. zum öffentlichen Recht.

5. Vorlage an EuGH nach Art.267 AEUV (grds. Ermessen, Pflicht bei letztinstanzlichen Gerichten): s. dazu Teil IV. zum Europarecht.